M/E
M/E ist eine neue Serie, an der Kawauchi 2019 begonnen hat zu arbeiten. Die Buchstaben stehen für ‘Mother‘ (‘Mutter‘) und ‘Earth‘ (‘Erde‘) und verbinden sich zu ‘Mother Earth‘ (‘Mutter Erde‘) und ‘Me‘ (‘Ich‘). Auf den ersten Blick mögen die Bilder von den Vulkanen und Eisschollen Islands und den Schneelandschaften Hokkaidos weit entfernt und ohne Bezug zu den Alltagsszenen der COVID-19- Pandemie erscheinen, die sie in der Serie begleiten. Beide Arten von Bildern zeigen jedoch Ereignisse, die sich gegenwärtig auf unserem Planeten abspielen, und Kawauchis künstlerisches Schaffen macht uns auf die Verbindung zwischen ihnen aufmerksam. Diese Serie lädt den Betrachter dazu ein, eine Reihe von Fragen über die Funktionsweise des menschlichen Lebens und unsere Beziehung zur Natur zu überdenken.
‘Manche Dinge lassen sich nur dadurch erreichen, dass ich meinen Körper bewege und mich meinem fotografischen Motiv frontal gegenüberstelle. Ich habe festgestellt, dass dies ein effektiver Weg ist, um mich - wenn auch schrittweise - der unbeantwortbaren Frage zu nähern, warum ich mich gerade hier und jetzt in diesem Leben befinde. Nachdem ich mehr als dreissig Jahre auf diese Weise gelebt habe, verspürte ich den Wunsch, den Boden, auf dem ich stehe, noch einmal zu vergegenwärtigen. Nicht in Bezug auf regionale oder nationale Grenzen, sondern auf die Tatsache, dass ich mich auf einem Planeten befinde. Als ich im Sommer 2019 Island besuchte – ich war zuvor nur ein einziges Mal vor etwa zwanzig Jahren dort – wurde dieser Wunsch erfüllt. Ich sah Geysire, die wie der Atem des Planeten aussahen, und Gletscher die weit über jede menschliche Zeit hinausgehen. Und was ich sah, schien meine eigene Existenz zu erleuchten. Ein Erlebnis im Inneren eines schlafenden Vulkans hinterliess einen besonders starken Eindruck. Als ich nach oben blickte, sah ich Licht, das durch den Krater über mir einfiel, und seine Form erinnerte an weibliche Genitalien. Bei diesem Anblick hatte ich das Gefühl, ein Fötus zu sein, der von der Erde umhüllt ist, und ich fühlte eine Verbindung zu diesem Planeten, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Meine Pläne, Island im Winter erneut zu besuchen, um diese
Verbindungen tiefer zu ergründen, wurden durch COVID-19 durchkreuzt. Unter anderem deshalb besuchte ich im Winter des letzten Jahres mehrmals Hokkaido. Dort habe ich Dinge gesehen, die man nur in der bittersten Kälte sehen kann, und mir wurde bewusst, wie klein und zerbrechlich mein eigener Körper wirklich ist. Man nehme die Anfangsbuchstaben von 'Mother Earth' (‘Mutter Erde‘) und das Ergebnis ist 'M/E' (‘Ich‘). Als ich diese beiden Buchstaben ausschrieb, fühlte ich eine Verbindung zwischen allen Dingen, angefangen bei denen, die so riesig sind, dass man sie mit blossem Auge nicht in ihrer vollen Form erfassen kann, bis hin zu den kleinsten Individuen – und ich wurde an das geheimnisvolle Gefühl der Inversion und Einheit zwischen dem Planeten und mir selbst erinnert, wie ich es unter dem Vulkankrater erlebte.‘
– Rinko Kawauchi