Reims
‘In Reims zog es mich natürlich zu den unumgänglichen Orten wie der Kathedrale oder den Hallen von Boulingrin, aber ich wollte auch alltägliche Orte in den Siedlungen erforschen, wie zum Beispiel das Viertel Croix-Rouge. Denn im Gegensatz zum Monument erzeugt das Wohnmodul eine rationale und utilitaristische Funktionalität, die extrem vereinfacht ist und jegliche Historizität des Ortes negiert. Ich habe diese Fragmente der modularen Architektur mit anderen plastischen Elementen wie denen von Imi Knoebel in der Kathedrale von Reims, von Jean Lurçat in seinem Wandteppich ‘Champagne’ oder auch von Victor Vasarely mit seinen Werken zur urbanen Kunst kombiniert, in einer Form der Versöhnung der Künste.’ – Stéphane Couturier
Tapisserie
‘’Le Chant de l'Apocalypse’ verbindet das Medium Fotografie mit dem Medium Textil, um einen zeitgenössischen Wandteppich zu schaffen. Der Beginn dieser Recherche wurde durch eine Einladung der Musées d'Angers im Jahr 2020 ermöglicht. Dort studierte ich die beiden Meisterwerke der Tapisserie, die ‘tenture de l'Apocalypse’ aus dem 14. Jahrhundert und den ‘Chant du Monde’ aus dem 20. Jahrhundert von Jean Lurçat. Da dieser die Malerei aufgab, um sich der Wandteppichkunst zu widmen, nachdem er die ‘tenture de l'Apocalypse’ entdeckt hatte, wollte ich diese beiden eng miteinander verbundenen Werke physisch zusammenbringen. Eine Reihe von Fotografien, die auf dem Fusionsverfahren basieren, das ich seit 2005 anwende, wurde 2020 in Form von Fotoabzügen präsentiert, aber sehr schnell erschien mir die Idee unerlässlich, einen Wandteppich in der Kontinuität des ursprünglichen Mediums herzustellen.’ – Stéphane Couturier
E1027+123 – Villa Eileen Gray
Für dieses neue Projekt überschreitet der Künstler definitiv die Türschwellen der Häuser und konzentriert sich auf das, was hinter den Fensterläden und Fassaden passiert. Er fotografiert die Kehrseite der Wände: die Seite, die beherbergt und nicht mehr die, die ausstellt. Diese Verlagerung von aussen nach innen ist unweigerlich mit einem Eintauchen in die Intimität verbunden. In der Architektur scheinen häusliche und psychologische Innenräume manchmal zu verschmelzen. Dies ist zumindest die Analogie, die Eileen Gray, die Architektin und ehemalige Besitzerin des Gebäudes, das Stéphane Couturier fotografiert hat, entwickelt hat: Die Villa E-1027. Dieses 1929 in Roquebrune Cap-Martin in den Alpes-Maritimes erbaute Haus war ihr architektonisches Meisterwerk. Während die Modernisten zu dieser Zeit die "Wohnmaschine" entwickelten, stellte sich Eileen Gray den Raum als Erweiterung des Selbst vor. Für sie ist das Haus "die Hülle des Menschen, seine Erweiterung, Ausdehnung und geistige Strahlkraft".
Les Nouveaux Constructeurs
Auf Einladung von Julie Gutierrez, Kuratorin des Musée Fernand Léger in Biot (Frankreich), setzte sich Stéphane Couturier intensiv mit dem Schaffen Fernand Légers auseinander, einem der Meister der Modernen Malerei im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts. Légers besondere Aufmerksamkeit galt den Umbrüchen seiner Zeit. Neben der Stadt war die Veränderung des Menschen durch Maschine und Massenproduktion zentraler Gegenstand seiner Werke, die von den Formexperimenten der Kubisten ausgehend zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck fanden, der kubistische Avantgarde mit kommunistischem Engagement verband. ‘Mir sind die vielen Elemente bewusst geworden, die mich ihm näher bringen – seine Faszination für die Stadt, für industrielle Elemente, für die Architektur, für die Geometrie der Formen …’, bemerkt Stéphane Couturier zu seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Légers. Wenn sich nun Aufnahmen von Stadtlandschaften und Industriearchitekturen mit den Kompositionen des Malers verbinden, wird das Prinzip der Überlagerung zweier Bilder, das der Fotograf in den vergangenen Jahren zu einem wesentlichen Element seiner Kunst entwickelte, auf eine neue Ebene gehoben. Die Begegnung von zwei unterschiedlichen und doch eng verwandten, weil architektonischen Strukturen, führt zu Werken, die malerisch gedachte Fotografien ebenso wie fotografisch gemachte Malereien sind. Konstruktiv und konstruiert bilden diese Werke die gesehene Wirklichkeit ab und gehen doch über das nur Sichtbare hinaus. Keine Abbilder, sondern Bilder, die ihre eigene Realität haben. Als Cibachrome abgezogen und in einen schwarzen Objektrahmen eingepasst werden die Fotografien zu kostbaren Objekten, die auch auf materieller Ebene alt und neu auf einzigartige Weise verbinden.
Melting Point / Toyota
Stéphane Couturiers Serie 'Melting Point' präsentiert ein Toyota-Montagewerk in Valenciennes (Frankreich). Die Fotografien betonen die Zyklen von Bau und Abriss, die dem modernen industrialisierten Leben eigen sind, und besitzen dynamische vertikale und horizontale Linien, elegante Kurven und brillante Effekte von Licht und einheimischen Farben. Mit einer Grossformatkamera erstellt Couturier detailgetreue Abzüge, die das Bewusstsein des Betrachters dafür erweitern, wie eine Fotografie aussehen kann und wie urbane Ereignisse konzipiert werden können. Jedes Bild wird aus einem Arrangement von zwei Zeitpunkten gedruckt, wodurch hochgradig abstrakte und dennoch präzise Detailbilder entstehen. Menschen, Maschinen, Autoteile, Drähte und mehr konkurrieren um die Aufmerksamkeit des Betrachters - Bilder der Industrie, die gleichzeitig ausser Kontrolle geraten und in perfekter Harmonie zueinander stehen.
Melting Power / Alstom
Auf der Grundlage von Fotografien, die in den Werkstätten der Alstom-Werke in Belfort aufgenommen wurden, schlägt Stéphane Couturier eine Art figurative Abstraktion vor, die auf einer Mischung und einem Zusammenprall von Formen, plastischen und farbigen Realitäten beruht. Sein Werk liegt zwischen Fotografie und Malerei. Alstom gehört zu der Serie Melting Point. Mit „figurativer Abstraktion“ schafft Couturier packende Bilder, welche ständige Bewegung und Veränderung sichtbar machen. Mit einem hohen kompositorischen Können erfasst der Künstler fotografisch allgemeingültige Archetypen der westliche Zivilisation des 21. Jahrhunderts und bricht dabei den theoretischen Rahmen der fotografischen Möglichkeiten; Form und Inhalt passen sich an und werden Stellvertreter unserer sich immer weiter beschleunigenden technologischen Welt. Zwischen Abstraktion und Dokumentation erkunden und hinterfragen die Werke wie moderne Kulturen gleichzeitig erschaffen und zerstören können.
Melting Point / Chandigarh
Stéphane Couturiers Serie 'Chandigarh Replay' signalisiert nach 'Melting Point' eine Rückkehr zur urbanen Architektur. Diese neuere Serie steht im Einklang mit vielen vorangegangenen Arbeiten, sei es seine Pariser oder Berliner Serie aus den 1990er Jahren, oder noch mehr mit denen, die einige Jahre später in Seoul und Moskau entstanden sind. Die Architektur, genauer gesagt das urbane Gefüge, wird als 'lebendiger Organismus' wahrgenommen, um Couturiers eigene Worte zu gebrauchen. Stets strebt sie nach einer Komposition, die auf 'Wahrnehmungsebenen' spielt, Lagen und Schichten der Erinnerung, die jedes urbane Territorium ausmachen und sedimentieren: geschichtsträchtige Orte (Paris, Berlin, Rom) oder ganz im Gegenteil, amnestisch (Seoul, Moskau), innerhalb derer immer eine seltsame Ausarbeitung zwischen Konstruktion und Zerstörung im Spiel zu sein scheint - beides endemische Zyklen des modernen industrialisierten Lebens. Seine Bilder spielen mit dem Gegensatz zwischen allgemeiner Komposition und Sinn für das Detail, zwischen Blick auf das Ganze und Nahsicht. In der Serie 'Chandigarh Replay' liefert Couturier eine vieldeutige, dunkle und farbenfrohe Vision der von Le Corbusier entworfenen indischen Stadt Chandigarh. Mit Hilfe von Computern überlagert der Fotograf die Fassaden der Gebäude, traurige Stahlbetonblöcke und die mit farbenfrohen modernistischen Fresken geschmückten Innenräume. Die Realität der Stadt wird auf flache Farbflächen reduziert, fast zu einer Kulisse.
Alger
In seiner neuesten Werkgruppe, die über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren entstanden ist, beschäftigt sich Stéphane Couturier in hoch ästhetischen und gleichzeitig gesellschaftlich-sozial ambitionierten Fotografien und Videos mit der Siedlung ‘Climat de France’ – heute ‘Oued Koriche’ – in Algier. In den 1950er Jahren nach Plänen des französischen Architekten Fernand Pouillon im Stil der internationalen Moderne errichtetet, ist das ambitionierte Bauprojekt das Zentrum des Stadtviertels Bab-El-Oued. Heute ist die Siedlung eine Stadt in der Stadt, die von der Politik vergessen und von der Polizei gemieden wird. Nachdem Stéphane Couturier in der Vergangenheit den Fokus seines Schaffens auf die formalen Eigenheiten der Architektur der Moderne gelegt hat, setzt er sich in seinen neuesten Werken intensiv auch mit den Menschen auseinander, welche die am Reissbrett geplanten Architekturen mit Leben erfüllen und dabei die idealen Bauwerke ihren Vorstellungen und Bedürfnissen anpassen. Die strengen Formen und regelmässigen Strukturen der Gebäude treffen auf das zufällig Entstandene, auf das Alltägliche, auf das Leben. Die Fotografien und Videos von Stéphane Couturier beziehen ihre Kraft und ihre Lebendigkeit aus eben dieser Spannung: aus dem Zusammentreffen von gebautem Ideal und gelebter Wirklichkeit. Stéphane Couturiers Werke aus Algier erhalten zusätzlich zu ihrer ästhetischen Qualität eine beinahe tagespolitisch aktuelle Komponente. Auf subtile Weise thematisieren die Werke die Folgen des Kolonialismus in Nordafrika und damit auch eine der Wurzeln der aktuellen weltpolitischen und es gesellschaftlichen Entwicklungen speziell in dieser Region, die bis heute zu spüren sind.
Sète
Weit entfernt von Reportagen und auch Ansichtskarten enthüllen Stéphane Couturiers "Hybridisierungen" eine Hafenstadt, die die alten Leute von Sète zu kennen glaubten. Jedes Jahr lädt die Organisation Images Singulières einen renommierten Künstler ein, einen Blick auf die Stadt zu werfen. Der Stil eines jeden von ihnen – der Schwede Anders Petersen (2008) oder der Franzose Richard Dumas (2014) – ist sofort erkennbar, aber sie alle haben das gleiche Spiel mit den vor Ort aufgenommenen Fotos gespielt. Mit der Entscheidung, Stéphane Couturier (geb. 1957) für diese zehnte Veranstaltung im Bereich der Dokumentarfotografie zu wählen, hat das Festival seine Perspektive völlig verändert. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist der Fotograf ein "Plastizierer", d.h. er erstellt keine Reportagen, sondern verwendet seine in der Stadt aufgenommenen Bilder als Rohmaterial, das er am Computer bearbeitet und modelliert. Manchmal bis zur Unwirklichkeit in der Art eines Malers. Einige seiner "fotografischen Gemälde" in Sète erinnern an Fernand Légers "Le Grand Tug" (1923) oder an die sehr grafischen Gemälde des russischen Konstruktivisten Alexander Rodtschenko aus den späten 1910er Jahren. Es ist jedoch unmöglich, sein Werk mit moderner Kunst gleichzusetzen. Der Künstler macht die Stadt nicht abstrakt. Im Gegenteil, Stéphane Couturier verklärt sie, enthüllt ihre Seele, ihre Vergangenheit, ihr verborgenes Gesicht.
Melting Point / Brasilia
Stéphane Couturier schlägt mit der Reihe Melting point Brasilia eine neue Lesart der Architektur von Oscar Niemeyer vor. Anstatt einen einzigen Blickwinkel zu bevorzugen, überlagert Stéphane Couturier zwei Aufnahmen. Diese Dualität bietet einen neuen Blick sowie neue Fragen zur aufgezeichneten Realität. Stéphane Couturiers Arbeit bietet eine neue Architektur der Stadt Brasilia. Der Künstler überträgt seine eigene Vision der Welt und gibt dem Betrachter einige Hinweise, um dieses neue fragmentarische und experimentelle Universum zu entziffern. Mit diesen neuen Fotografien verwischt Stéphane Couturier unseren Blick. Er verlässt den dokumentarischen Aspekt und gestaltet ein plastisches Werk. Die neue architektonische und visuelle "Schöpfung", die uns gezeigt wird, stellt die Dualität von sehendem Subjekt und gesehenem Ding in Frage. Indem er sein Vokabular mit jeder Serie erneuert, vermittelt Stéphane Couturier seine eigene Vision der Welt. Diese Vision ist keineswegs eine Affirmation, es geht hier darum, den Blick des Betrachters abzulenken und ihm einige Hinweise zu geben, die es ihm ermöglichen, Couturiers Universum - ehemals Stadtarchäologie - zu entziffern. Mathieu Poirier schrieb 2004 über diesen Künstler: ‘Jede Aufnahme ist wie eine Kulisse, die wie im Theater eine andere überlagert, sie unterstützt oder ihr widerspricht’. Hier in der Serie Melting point Brasilia verschmelzen die Kulissen miteinander und schaffen eine neue fragmentierte und experimentelle Umgebung.